
In Zeiten der Klimakrise und gesellschaftlicher Veränderungen wird die Rolle der Nutztierhaltung oft kritisch betrachtet. Dabei geraten Landwirte, Tierärzte und andere Akteure der Wertschöpfungskette, die täglich daran arbeiten, unsere Lebensmittelversorgung sicherzustellen, leicht in den Hintergrund. Die weltweiten Ernährungssysteme stehen seit der COVID-19-Pandemie und dem Krieg in der Ukraine unter enormem Druck – von Lebensmittelknappheit über Düngemittelkrisen bis hin zu extremen Wetterereignissen, Unterbrechungen der Lieferketten, Bevölkerungswachstum, Tierkrankheiten und steigenden Konsumentenerwartungen. Die Landwirtschaft von heute ist nicht mehr die von gestern.
Auf dem Weg zu nachhaltiger Landwirtschaft bis 2050
Die Lebensmittelproduktion ist für ein Drittel der weltweiten Treibhausgasemissionen verantwortlich, wobei fast 70 % aller landwirtschaftlichen Emissionen in der EU aus der Nutztierhaltung stammen. Gleichzeitig wird die globale Nachfrage nach Fleischprodukten bis 2050 voraussichtlich doppelt so hoch sein wie heute. Eine intensivere Produktion könnte natürliche Ressourcen weiter belasten und Umweltfolgen verstärken.
Mit dem Green Deal der EU, der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll, setzt die Farm-to-Fork-Strategie ambitionierte Ziele:
- 25 % der landwirtschaftlichen Fläche sollen auf biologische Landwirtschaft umgestellt werden.
- 50 % weniger Pestizideinsatz.
- 20 % weniger Düngemitteleinsatz.
Halbierung der Verwendung von Antibiotika in der Tierhaltung bis 2030.
Diese Maßnahmen haben direkte Auswirkungen auf die Nutztierhaltung. Doch welche Landwirtschaftssysteme sind wirklich nachhaltig – und wie können wir dorthin gelangen?
Um diese Fragen zu beantworten, beschäftigen sich vier Forschungsprojekte – PATHWAYS, mEATquality, Code: Re-farm und INTAQT – mit verschiedenen Indikatoren zur Nachhaltigkeit in der Tierhaltung. Sie untersuchen Produktivität, Tierwohl und Umweltaspekte, um nachhaltige Qualitätsprodukte auf den Markt zu bringen.
Die Vielschichtigkeit der Nutztierhaltung
Europa beheimatet eine Vielzahl von Haltungssystemen, die durch ökologische, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren geprägt wurden. Vom intensiven Produktionsbetrieb bis zur extensiven Weidehaltung reichen die Modelle von konventioneller bis biologischer und freilaufender Tierhaltung. Doch welche Systeme liefern tatsächlich die besten Ergebnisse in Bezug auf Tierwohl, Umweltauswirkungen und Produktqualität? Das PATHWAYS-Projekt entwickelt ein multidimensionales Bewertungssystem, um Nutztierhaltung hinsichtlich Produktivität, Tiergesundheit, Treibhausgasemissionen und Ökosystemdienstleistungen zu analysieren. Ziel ist es, praxisnahe Übergangsstrategien für eine nachhaltige europäische Nutztierhaltung zu erarbeiten – gemeinsam mit Landwirten, Politikern und Verbrauchern.
Extensive vs. intensive Tierhaltung: Ein komplexes Zusammenspiel
Extensive Systeme, wie Weidehaltung, gelten oft als nachhaltiger. Sie unterstützen ländliche Gemeinschaften, verbessern die Bodenqualität durch Kohlenstoffbindung und fördern das natürliche Gleichgewicht der Weideflächen. Doch stehen sie vor Herausforderungen wie begrenzten Ressourcen, klimatischen Risiken und Krankheitsanfälligkeit. Das mEATquality-Projekt untersucht, wie sich extensive Haltungsmethoden auf die Qualität von Schweine- und Geflügelfleisch auswirken. Dabei wird erforscht, welche Faktoren – etwa Futter, Haltungssystem oder Stresslevel – eine Rolle für das Endprodukt spielen.
Intensive Tierhaltung hingegen wird oft mit Umweltbelastung und schlechterem Tierwohl in Verbindung gebracht. Doch moderne Ansätze zeigen, dass auch solche Systeme nachhaltiger gestaltet werden können. Beispielsweise können bessere Fütterungsmethoden Emissionen senken und gezielte Gesundheitsmaßnahmen das Tierwohl verbessern.
Nachhaltige Produkte: Erwartungen der Verbraucher
Moderne Konsumenten verlangen hochwertige, nachhaltige und tierfreundliche Lebensmittel. Doch wie lässt sich die Qualität eines Produkts wirklich messen?
Das Code: Re-farm-Projekt vergleicht intensive und extensive Haltungssysteme anhand von Faktoren wie Tiergesundheit, Produktqualität und Nährwert. Dazu werden innovative Techniken wie:
- Automatisierte Tierwohlbewertungen,
- Mikrobiomanalysen,
- Gasanalysen,
- Früherkennung von Mastitis (Euterentzündungen)
eingesetzt, um sowohl Landwirten als auch Verbrauchern eine verlässliche Entscheidungsgrundlage zu bieten.
Das INTAQT-Projekt führt das Konzept „One Quality“ ein – ein neuer Standard zur Bewertung von Fleisch- und Milchprodukten nach Qualitäts- und Nachhaltigkeitskriterien. Ähnliche Systeme wurden bereits erfolgreich eingesetzt, z. B. in der australischen Rindfleischindustrie, wo ein Qualitätssicherungssystem den Verkaufspreis um 5,5 % steigerte.
Digitale Innovationen für mehr Transparenz
Verbraucher spielen eine entscheidende Rolle bei der Gestaltung nachhaltiger Ernährungssysteme. Neue digitale Anwendungen sollen mehr Transparenz entlang der Wertschöpfungskette schaffen.
Geplante Apps:
Re-farm App (2024):
Verbindet Konsumenten mit der Lieferkette und liefert per Augmented Reality Informationen zu Tierwohl, Nachhaltigkeit und Recyclingfähigkeit der Verpackung.
PATHWAYS Consumer App (2025):
Bietet Verbrauchern Szenarien zu nachhaltigen Ernährungsweisen.
mEATquality Extensive Practices App (2025):
Hilft Landwirten bei der nachhaltigen Optimierung ihrer Betriebe.
Diese Apps sollen Verbrauchern ermöglichen, nachhaltige Kaufentscheidungen zu treffen und sicherzustellen, dass Produkte umweltfreundlich und ethisch hergestellt wurden.
Forschung ebnet den Weg für nachhaltige Landwirtschaft
Die laufenden Forschungsprojekte legen den Grundstein für eine nachhaltige Transformation der Nutztierhaltung. Dabei gilt es, die richtigen Kompromisse zwischen Nachhaltigkeit, Kosten und Verbraucherbedürfnissen zu finden. Lebende Labore ermöglichen es Landwirten, neue Best Practices auszutauschen und mit Wissenschaftlern, Politikern und Konsumenten zusammenzuarbeiten. So können innovative und nachhaltige Haltungsmethoden entwickelt werden, die sowohl hohe Qualität als auch Umweltfreundlichkeit garantieren. Die Zukunft der Nutztierhaltung liegt in einer engen Verbindung zwischen Wissenschaft, Praxis und Verbraucheraufklärung. Gelingt dies, könnte die EU eine Vorreiterrolle in der nachhaltigen Lebensmittelproduktion einnehmen – mit Qualität und Nachhaltigkeit als untrennbare Einheit.