Das Motivplakat als Blickfang des WKO-Gemeinschaftsstandes auf der diesjährigen Kölner Anuga vermittelt ungewollt, in welch tiefem Dilemma Österreichs Lebensmittelindustrie von Agrana bis Berglandmilch, von Vivatis bis Spitz steckt. „Land der Berge“, so lautet der Slogan, der als herkunftsbezogener Qualitäts-Claim den rotweißroten Lebensmitteln zu einem USP, also einem einzigartigen Wettbewerbsvorteil auf dem deutschen, dem europäischen und dem globalen Food-Markt verhelfen soll. Visualisiert wird diese Botschaft vom alpinen Feinkostladen Europas (die Schweiz ist ja Gottseidank nicht EU-Mitglied) von einem Einkaufskorb, aus dem Austro-Markenstars wie Soletti, Manner Schnitte, Red Bull Energy Drinks und Darbo Konfitüre herausragen, allesamt Marken, von deren Bergheimat die Category Manager von Aldi und Lidl, Carrefour und Rewe/Leclerc vermutlich nicht restlos überzeugt sein dürften.
Eine Werbebotschaft kann freilich nicht verwegen genug sein, dass sie sich nicht durch Marktforschung rechtfertigen lässt. „Land der Berge“ sei deshalb als Claim gewählt worden, weil unsere nördlichen Nachbarn Österreich als Urlaubsland vor allem wegen seiner Berge bevorzugen, heißt es in der Medienaussendung der Kammer.
Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie eng verzahnt? Nicht unbedingt
„Land der Berge“ ist bereits der xte Versuch, den von Franz Fischler geprägten Begriff von Österreich als dem Feinkostladen Europas zu einer nationalen Marketingstrategie für Österreichs Lebensmittelwirtschaft weiter zu entwickeln. Grundvoraussetzung dafür, dass dieses Vorhaben gelingt, ist eine enge strategische Verzahnung zwischen Austro-Landwirtschaft und Austro-Lebensmittelindustrie. Davon aber kann in der Praxis keine Rede sein. Im Gegenteil: Gelebte Wertschöpfungspartnerschaft zwischen Bauernhöfen und Lebensmittelfabriken ist hierzulande eher die Ausnahme und keinesfalls die Regel.
Führt Darbo eine Wachauer Marillenmarmelade im Angebot? Die RWA, Großunternehmen der bäuerlichen Raiffeisenorganisation, hat schon vor Jahren Lebensmittel-Firmen wie Ybbstaler oder Frisch & Frost an ausländische Investoren verkauft und ihre Kelly-Beteiligung abgegeben. Während „unsere“ Agrana als Südzucker-Tochter zwar global aufgestellt ist, aber ihre Fruchtzubereitungen nur zu einem sehr geringen Teil aus heimischem Obst erzeugt.
Die Freshcut-Salate, die die Firma Eisberg, Tochter von Bell Foods (Coop Schweiz-Gruppe) in der nagelneuen Fabrik in Marchtrenk herstellt, werden nicht von den Efko-Bauern aus dem nahe gelegenen Eferdinger Becken, sondern hauptsächlich von Gemüsebauern aus donauabwärts gelegenen niederösterreichischen Regionen beliefert. Während Vivatis-Tochter Efko ihrerseits Vitana-Fertigsalate im Großraum Wien herstellt und verpackt.
Einer jüngsten Aussendung der jungen AMA-Tochter „Netzwerk Kulinarik“ lag eine RollAMA-Studie bei, die wachsende Direktvermarktungsaktivitäten heimischer Landwirte mit Daten aus dem GfK-Haushaltspanel belegt. Wenn eine halbamtliche Agrarmarketing-Organisation wie die AMA auf dem europäischen Lebensmittelmarkt den Eindruck vermittelt, dass unsere Bauernhöfe als Lebensmittelproduzenten die Standards für Superpremium-Qualität, Gesundheit und Nachhaltigkeit setzen, dann ist eine solche Message zwar imagefördernd für unsere Landwirte, aber nicht gerade ein Verkaufsförderungsturbo für die heimische Lebensmittelindustrie. Steckenpferd heimischer Agrarmarketing-Aktivitäten ist die regionale Herkunft, weshalb die „Genussregionen“ neuerdings von Netzwerk Kulinarik koordiniert werden und damit unter den Fittichen der AMA stehen. Leuchtturm-Funktion sollte in einem solchen Netzwerk Lebensmittelproduzenten zukommen, die es verstehen, die regionale Herkunft ihrer Erzeugnisse markentechnisch als Qualitäts-Claim einzusetzen. Handl Tyrol macht das ausgezeichnet, für die steirischen Vulcano-Schinkentrockner ist da noch (Heiß-)Luft nach oben.
Lohnproduktion von Handelsmarken, die Herausforderung für unsere Lebensmittelindustrie
Apropos heiß: Noch viel heißer läuft die Diskussion über den Druck, den der Lebensmittelhandel auf die Lebensmittelproduzenten im allgemeinen und die Lebensmittelindustrie im besonderen ausübt. „Sleeping with the Enemy“, also die Parallelproduktion von Herstellermarken und Handelsmarken ist für die Mehrheit der österreichischen Lebensmittelproduzenten eine unverzichtbare Notwendigkeit. Nur die ganz großen, global aufgestellten Marken-Multis können sich den Luxus leisten, auf Private Label-Produktion komplett zu verzichten.
Als Spar-Präsident Gerhard Drexel kürzlich im Klub der Wirtschaftspublizisten die Eigenmarken-Strategie des Tannenimperiums erläuterte, wurde wieder einmal deutlich, wie sehr zurzeit im Lebensmittelmarketing der Handel den Ton angibt und die Lebensmittelerzeuger in eine Statistenrolle drängt. Im wichtigen, weil umsatzstarken Fleischsektor ist die Spar mit ihren Tann-Betrieben Marktführer in der Produktion und hat nicht weniger als elf regionale Frischfleisch-Herkunftsmarken am Speisezettel: Vom Vorarlberger Freilandbeef bis zum St. Pöltener (Kalbinnen-)„Rindfleisch a La Carte“.
Die Spar Kampagne „Spar spart Zucker ein“, fand sogar lobende Erwähnung in einer Titelgeschichte des „Spiegel“. Markenartikler wie Rauch und Berglandmilch, die Spar-Eigenmarken produzieren, wurden in die Spar-Allianz gegen Zucker aufgenommen. „Alle 390 Spar Premium-Produkte werden 100% palmölfrei“ ist eine Kampagne, die die Drexel-Truppe als Klimaschützer positioniert und die Industrie vor allerlei Probleme stellt. Eigenmarken-Produzenten müssen die Rezepturen ändern und neue Rohstoff-Lieferanten suchen. Selbst ein so erfahrender Private Label-Erzeuger wie die Migros-Tochter Jowa, Hersteller von Teigen für Weihnachtskekse, tat sich dabei schwer. Und dass eine Herstellermarke wie Nutella, die weiterhin auf Palmöl setzt, in Spar Märkten nicht „marktanteilsadäquat“ promotet wird, davon kann sich jeder Spar-, Eurospar- und Interspar-Kunde überzeugen.
Die Spar Österreich-Gruppe steht freilich mit ihrer forcierten Eigenmarken-Strategie in Europa nicht alleine da. Im Gegenteil: Handelsriesen wie Aldi und Lidl in Deutschland, Migros und Coop in der Schweiz, Tesco und Sainsbury in UK verfolgen diese Politik schon seit langem, in Deutschland geben Edeka und Rewe, speziell bei den Nachhaltigkeits-Eigenmarken im Match mit den beiden Discount-Kapazundern ordentlich Gas. Hierzulande hat die Rewe schon seinerzeit mit Ja!Natürlich die Benchmarks für Bio-Lebensmittel gesetzt, denen die Produzenten keine vergleichbaren Herstellermarken entgegensetzen konnten. Und wie das Beispiel Toni Hubmann, jetzt eine Rewe-Eigenmarke, zeigt, kann es auch vorkommen, dass der Handel einspringt, wenn auf Produzentenebene ein Anbieter das Handtuch wirft.
Anuga-Trends: Alternative Lebensmittel, Convenience-Innovationen
Gesunde Ernährung und Klimawandel, zwei Themen von existenzieller Bedeutung für die Menschen, waren, wie nicht anders zu erwarten, in den Messehallen am Rheinufer allgegenwärtig. Aber es sind nicht immer die großen Lebensmittelproduzenten, die beim Food-Trendsetting die Nase vorne haben, sondern vor allem die zahllosen Startups, die NGOs und die großen Handelsketten. Die Gretchenfrage der Lebensmittelbranche lautet: Wer sorgt für die Innovationen, die die Märkte beleben, das Geschäft aller beflügeln?
Die Anuga lieferte darauf recht diffuse Antworten. Wie das „Handelsblatt“ in seiner Ausgabe vom 10. Oktober berichtete, sind es innovative Startups, die mit ihren Innovationen langfristig eine Veränderung der Essgewohnheiten bewirken und auf diese Weise die Food-Branche radikal verändern. Pflanzenproteine würden immer mehr tierische Proteine ersetzen, erklären uns die Trendforscher. AT Kearney hat eine Studie vorgelegt, der zufolge im Jahr 2040 nur mehr 40% der konsumierten Fleischprodukte von Tieren stammen. Für die restlichen 60% kämen dann vegane Fleischersatz-Produkte („Beyond Meat“) und in-vitro-Fleisch auf.
Mancher Großproduzent wie die deutsche Wiesenhof-Gruppe (PHW-Konzern), bislang in Deutschland als starker Geflügelfleisch-Anbieter unterwegs, hat sich bereits ein alternatives Umsatzspielbein zugelegt und präsentierte in Köln die in den USA entwickelten Beyond Meat-Burger und Grillwürstchen, die nicht aus Fleisch, sondern aus Erbsen hergestellt werden. Nestlé, der weltgrößte Lebensmittelproduzent, hat seine Wurstfirma Herta verkauft und investiert in pflanzliche Fleischersatzprodukte.
Was die Klimafolgen betrifft, heimst der Ruf nach einer weltweiten Verlagerung von tierischer auf pflanzlicher Lebensmittelproduktion viel Beifall ein, die gesundheitlichen Auswirkungen dieser angesagten Ernährungs-Revolution sind nicht ganz so eindeutig. Noch haben die Milch- und Fleisch-Lobby in dieser Frage nicht das Handtuch geworfen. Joghurts, mit Protein angereichert, sind Ausdruck einer solchen „jetzt erst recht“-Strategie als Antwort auf Soyamilch. Anderseits werden laut aktueller Innova-Studie alternative Fleisch- und Milchprodukte in Deutschland zu 58% aus Gesundheitsgründen gekauft, weil sie weniger gesättigte Fettsäuren und Cholesterin enthalten.
Agrarnahe Frischprodukte und industriell erzeugte, länger haltbare Lebensmittel (im Händler-Sprech: „Trockensortiment“) sind, mit ähnlich hohen Umsatzanteilen, die beiden Säulen des Food-Geschäftes im Einzelhandel. Wichtigstes Innovationsfeld für die Lebensmittelindustrie ist die Steigerung des Conveniencegrades. Eine zur Anuga von der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie (BVE) vorgelegte Innova-Studie „Einfach lecker, Trends bei Fertigprodukten“ taugt auch als Strategie-Wegweiser für unsere Lebensmittelindustrie.
Hier die Kernaussagen dieser Studie, die sich auf den Lebensmittelmarkt in Deutschland bezieht:
- 83% der Produktneuheiten 2018 waren Convenience-Lebensmittel; damit belegen sie Platz eins unter den Lebensmittel-Neuheiten.
- Auf Platz zwei folgen die Innovationen mit dem Attribut „gesund“ (53,6%), drittstärkster Innovationstmotor sind mit 44,9% solche Lebensmittel, die für einen „nachhaltigen Konsum“ stehen.
- Diese drei Innovationstreiber sind stark miteinander verwoben, Convenience hat heute zugleich gesund und nachhaltig zu sein.
- Die am stärksten wachsenden Produktgruppen bei den Neueinführungen im Food- Convenience-Bereich sind Sportriegel, Sportgetränke, Kochboxen und vegetarische Snacks.
- To go-Produkte sind auf dem Vormarsch
- Der Snacking-Trend ist ungebrochen.
Die Challenge unserer Lebensmittelindustrie
Die Landwirtschaft mit dem Natur- und Heimat-Appeal, der Lebensmittelhandel mit seinen gesund-nachhaltigen Premium-Eigenmarken, kleingewerbliche Startups, die laut Spar Einkaufschef Johannes Holzleitner als zauberhafter „Feenstaub“ auf die Einzelhandelsregale herabrieseln, sie alle haben den Konsumenten ein emotional ansprechendes Narrativum anzubieten. Mehr Convenience, also Zeitersparnis und Gelingsicherheit, das ist die Markterfolgs-Story, die der Industrie auf den Leib geschrieben ist. Aber: Investitionen in Convenience-Innovationen sind sehr, sehr kostspielig.
Und hier kommt die Unternehmengröße ins Spiel. Vorrangige strategische Option der nach Europa-Maßstäben kleinstrukturierten rotweißroten Lebensmittelindustrie ist die Fokussierung auf kleine Marktsegmente, bei denen die österreichische Herkunft qualitätsrelevant ist.
Für diese Segmente verbraucherfreundliche Innovationen zu entwickeln, das ist die große Herausforderung, vor der heimische Food-Designer stehen.
- Angebotstiefe statt Angebotsbreite.
- Markt- und Innovationsführerschaft für die Herstellermarke im jeweiligen Segment.
- Distribution über möglichst viele Absatzkanäle.
- Marktführerschaft im Inland als Grundlage für die Ausdehnung der Markenbekanntschaft auf Nachbarländer.
So ungefähr könnten die Anuga-Learnings für die Unternehmer und Manager in Österreichs Lebensmittelindustrie lauten.
Autor: Hanspeter Madlberger