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TW 100: „Der emotionale Genuss spielt sich im Kopf ab”

Kommt eine neue Schweinefleisch-Kennzeichnung? Der einflussreiche Chef der Schweinebörse legt es der AMA nahe. Johann Schlederer will langfristig gar ein fünfstufiges Gütesiegel. Warum das nicht verwirrend ist, erklärt er im Interview.

Wie man einen Elefanten verspeist, weiß man ungeachtet des unrealistischen Beispiels: nämlich Stück für Stück. Dieses Prinzip gilt aber auch für Schweinefleisch: Die starren Fronten zwischen Tierhaltungsgegnern und den bäuerlichen Produzenten soll 2021 ebenfalls ein Stufenplan stückweise aufweichen.

So zumindest versteht der Chef der landwirtschaftlichen Veredler (VLV) und der heimischen Schweinebörse, Johann Schlederer, seinen Vorstoß zu einem neuen Gütesiegel.

Im Gespräch mit „Fleisch & Co“ erläutert er den Nutzen seines „Tierwohl 100“-Konzepts näher. Klare Worte findet Dr. Schlederer aber auch zum generellen Reformbedarf des AMA-Gütesiegels, der Rolle des Verbrauchers und den unerträglichen Langstrecken-Transporten für Schlachtschweine.

Fleisch & Co: Dr. Schlederer, der Gustino-Vorstoß zum TW 100-Standard hat viele überrascht – warum braucht es noch ein Siegel in der Schweinehaltung?

Dr. Johann Schlederer: „Weil bei der bisherigen Differenzierung zwischen AMA-Gütesiegel, Tierwohl 60 („TW 60“ = 60 % mehr Platz, Vollspaltenverbot und Einstreu, Anm. d. Red.) und „Bio“ noch ein großes Vakuum bestand. Nationale und internationale Entwicklungen zeigen, dass es an der Zeit ist, der Vielfältigkeit der Tierhaltung eine abge- stufte und trotzdem klare Definition zu geben, sodass sich Landwirte, Verarbeiter, Handel und Verbraucher klar orientieren können.“

Fleisch & Co: Nicht nur in den sozialen Medien häufte sich zuletzt die Kritik am AMA-Gütesiegel. Wo sehen Sie seitens der Schweinebörse den Reformbedarf? Von Mindeststandards setzt sich ja auch Ihr Vorstoß ab.

Dr. Johann Schlederer: „Ich gehe davon aus, dass es in absehbarer Zeit beim AMA-Gütesiegel eine Dreistufigkeit geben wird. Das bisherige Gütesiegel dürfte ein Upgrade in Haltungsfragen – wie z. B. mehr Platzangebot – erhalten. Mit zwei darüber hinausgehenden Modulen für ,T W 60‘ sowie ,T W 100‘ entsteht ein übersichtliches Komplettangebot für kritische Verbraucher.“

Fleisch & Co: Unter anderem sprachen Sie in einer Online-Diskussion auch von Kooperation mit Tierschutz-Verbänden. Bislang herrschte bei den unterschiedlichen Tierwohl-Definitionen eher Front-Stellung. Wie kann TW 100 das Eis brechen? (Anmerkung: Hier geht es zur Diskussion auf Standard)

Dr. Johann Schlederer: „Wenn die Tierschutz-NGOs akzeptieren, dass es nur mit einem Stufenplan eine kontinuierliche Weiterentwicklung möglich ist, dann ist diese Frontstellung schnell aufgebrochen! Die Kooperation der Tierschützer bei unseren Initiativen verstehe ich im Sinne einer Unterstützung bei der Vermarktung von Programmen mit höheren Haltungsstandards, als das Gesetz es vorschreibt. Aktuell orte ich bei seriösen Tierschutzorganisationen wie z. B. ,Vier Pfoten‘ tatsächlich ein Engagement in diese Richtung. Extreme Tierschutz-Organisationen wie der VGT, die sowieso jede Form von Nutztierhaltung ablehnen und auch den Fleischkonsum, sind für eine Kooperation völlig unbrauchbar.

Übrigens: Mich erheitert die Konfrontation innerhalb der Tierschutz-Organisationen, zwischen den sachlich Seriösen und den extremen Realitätsverweigerern, die nur eine vegane Welt sehen.“

Fleisch & Co: Wie stark würde sich diese Anforderung preislich niederschlagen?

Dr. Johann Schlederer: „Das ist eben auch ein Stufen-Plan, weil sich auch die Kosten bei zusätzlichen Auflagen stufenweise nach oben bewegen. Mit Aufschlägen zwischen 10 und 50 Cent je Kilogramm Schlachtgewicht ist jedenfalls zu rechnen. Bei Autos ist es aber auch kein The- ma, dass VW, Mercedes und Ferrari unter- schiedlich viel kosten.“

Fleisch & Co: Sie haben explizit auch den Handel als Partner genannt. Was wären für einen Fleischer die Vorteile, wenn er Ihre Qualität deutlich teurer einkauft?

Dr. Johann Schlederer: „Wenn es stimmt, dass Verbraucher für gesicherte und kontrolliert höhere Tierhaltungsstandards mehr ausgeben bzw. ausgeben wollen, dann sollten auch Fleischer dieses offensichtliche Potenzial für sich nützen können. Jedenfalls sollte sich auch das Fleischer-Gewerbe mit der Materie auseinanderzusetzen, denn das tun auch die Handelsketten. Und jeder Fleischer wird bemüht sein, seine eigene Kundschaft bei der Stange zu halten.“

Fleisch & Co: Wie sieht die Herkunftskennzeichnung in der Praxis aus, die dem Konsumenten auch bei verarbeiteten Erzeugnissen wie Wurst Sicherheit gibt?

Dr. Johann Schlederer: „Das kann man nur an der bestehenden AMA-Gütesiegel-Struktur anhängen. Das funktioniert auch jetzt, das würde auch in der Dreistufigkeit gut funktionieren. Beim AMA-Gütesiegel werden Branchen-Vereinbarungen getroffen, die extern kontrolliert werden. Und bei allen AMA-Gütesiegel-Ebenen gilt sowieso: Österreich von Geburt bis zum Teller.“

Fleisch & Co: Apropos Österreich: Wir sind ein Land der Siegel – wie sieht die Schweinebörse diesen Wildwuchs, dass mittlerweile jeder Supermarkt sein eigenes „Süppchen“ kocht?

Dr. Johann Schlederer: „Natürlich gefällt uns das nicht, wenn man unsere Programme für das SB-Regal umtauft. Aber, wer die Macht hat, hat eben auch das Sagen. Daher kämpfe ich für ein nationales Fünf-Stufen-Modell, wo Standardware unter dem Gütesiegel und Bio über dem dreistufigen AMA-Gütesiegel liegen soll. Wenn das mit schlagkräftiger Öffentlichkeitsarbeit durch die AMA entsprechend kommuniziert wird, dann ist das die beste Orientierung für den gesamten Markt. Ob das System die Ebenen mit Sternen wie in Holland oder Schulnoten wie in Deutschland bewertet, ist nicht so relevant. Wenn es dem Laien einfach verständlich ist, ist es nicht mehr so entscheidend, welches Logo das Fleischpackerl ziert.“

Fleisch & Co: Der Knackpunkt in allen Überlegungen ist die Akzeptanz – auch preislich – beim Konsumenten. Beim Rind scheint man zu differenzieren; „Dry Aged Beef“ erreicht einen Mehrpreis, zumindest bei Grillfreaks. Aber beim Schwein?

Dr. Johann Schlederer: „Beim Schwein ist die Differenzierung durch Haltungskriterien am Gaumen schwer möglich. Diese geschieht hauptsächlich in der Küche. Der emotionale Genuss spielt sich im Kopf ab, sodass es eine sichere Differenzierung braucht zwischen herkömmlicher Schweinehaltung und den gehobenen Haltungsstandards. Wer das nicht glauben will, der soll einmal an einer Blindverkostung teilnehmen …“

Fleisch & Co: Ungeachtet des aktuellen Vorschlags: Wir haben 100% Eigenversorgung bei Schwein und dennoch Tiertransporte über weite Strecken. Was wäre hier zu verbessern?

Dr. Johann Schlederer: „Die Diskussion um Tiertransporte kommt nicht von der nationalen Ebene. Wir sprechen hierzulande von durchschnittlich 20 bis 30 Kilometern bis zum nächstgelege- nen Schlachthof. In wenigen Fällen sind es auch einmal 200 bis 300 Kilometer.

Das wirkliche Problem sind die internationalen Tiertransporte, die über Tausende Kilometer gehen, wo auf die Bedürfnisse der Tiere überhaupt nicht geachtet wird. Wenn dann diese schrecklichen Bilder über unsere Bildschirme flimmern und in jedes Wohnzimmer gesendet werden, ist die Aufregung verständlicherweise groß. Leider entsteht dann mitunter der falsche Eindruck, dass auch in Österreich Tierleid bei Transporten passiert. Für mich sind Langstrecken-Transporte für Schlachtschweine ein absolutes ,No-Go‘! Ich kann hier nur auf die internationale Gesetzgebung, sprich: Brüssel, verweisen und hoffen, dass man hier stärker einschreitet als bisher.“

Das will „Tierwohl 100“

Am Weg zum Fünf-Stufen-System?

Der neue Kennzeichnungsvorschlag der Schweinebörse
sieht folgende Kriterien für sein Modell „TW 100“ vor:

    • 100 % mehr Platz
    • Verbot von Vollspaltenverbot
    • verpflichtende Stroh-Einstreu
    • Auslauf
    • Kastration nur unter Narkose
    • Verbot des Schwanzkupierens

In der Idealvorstellung soll dieser Standard Teil einer neuen AMA-Gütesiegel-Architektur werden, so Dr. Johann Schlederer. Auch die Kontrolle würde von staatlicher Seite erfolgen.

Autor: Roland Graf

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