In der Markthalle 9 in Berlin-Kreuzberg
Beim Business Cocktail, den die KPMG (ein weltweites Netzwerk von Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen) im September in Linz für ihre Kunden aus Oberösterreichs Land- und Lebensmittelwirtschaft veranstaltete, ging es im wahrsten Sinn des Wortes um die Wurst. Big Player der Fleischbranche wie Rudolf Großfurtner (schlachtet 10.000 Schweine pro Woche), Alpenrind Salzburg (größter Fleischproduzent Westösterreichs), Spezialisten wie Anton Riepl, Inhaber der gleichnamigen Fleischmanufaktur in Gallneukirchen, und Schinken-Markenartikler wie Vulcano-Firmensprecher Franz Habel, lauschten gespannt den Ausführungen eines jungen Berliners mit Schnauze und Hut: Sein Name: Hendrik Haase. Unter seinem Künstlernamen „Wurstsack“ tritt er als Food-Aktivist und Comedian auf. Dass er seine revolutionäre Idee einer neuen Fleischkultur auch erfolgreich am Markt umsetzen kann, beweist er als Gesellschafter der Schau-Metzgerei „Kumpel & Keule“ in der Markthalle 9 in Berlin-Kreuzberg, als Veranstalter von Wurst-Events („Wurstgalerie“, Wurst Gang“) und als Mitherausgeber des 2015 erschienen Bandes „Crafted Meat, Die neue Fleischkultur“.
Das lesen Sie in diesem Artikel Das war schon eine mittlere Sensation: Ein junger Spund und Quereinsteiger aus dem Norden erklärt gestandenen Bossen der österreichischen Fleischwirtschaft, wie man dem auch hierzulande grassierenden Metzgersterben begegnet, das Vegan-Gespenst verscheucht und eine konsumkritische und umweltbewusste Digital Native-Generation zu einem lust- aber zugleich verantwortungsvollen Fleisch- und Wurstkonsum verführt. Ist dieser Henrik Haase ein Scharlatan, ein Traumtänzer? Innerhalb des Prosumer-Spektrums kommt den so genannten „Foodies“ besondere Bedeutung zu. Sie werden von den Crafted Meat-Protagonisten als Kernzielgruppe angesehen und kommunikativ umworben. Auf Anfrage der Fleischerzeitung sagte Haase, dass in Deutschland der Anteil der Foodies an der Gesamtbevölkerung bereits bei rund 20% liegen dürfte. Wir von Kumpel & Keule wollen den ehrlichen Genuss zurückholen. Es geht dabei um nichts weniger, als dem Fleisch und dem Handwerk seine Würde zurückzugeben. Kumpel & Keule steht für eine neue, junge Generation von Metzgern, die mit Leidenschaft und Überzeugung auf der Suche nach allumfassender Qualität vom Acker bis auf den Teller sind. Im Mittelpunkt der Arbeit von Kumpel & Keule stehen dabei Transparenz, die handwerkliche Herstellung und die Herkunft des Fleisches und vor allem wieder der Geschmack. Dabei geht es uns um eine genussvolle Balance von alt bewährten Traditionen und neuen internationalen Geschmäckern.
Wurstsack und die Charta
Das hochkarätige Publikum war, sehr zur Freude der gastgebenden KPMG-Zahlenfüchse, jedenfalls begeistert. Haase hat mit seiner Diagnose der gesellschaftlichen Ursachen der europaweiten Fleisch-Konsumkrise den Nerv getroffen. Und erntete viel Zustimmung mit seinen Lösungsansätzen. Worum aber geht’s bei der Crafted Meat Strategie? Einen guten Überblick vermittelt die „Charta der neuen Fleischkultur“. Die darin vertretenen Grundsätze lauten:
Die handwerkliche Herstellung von Fleisch- und Wurstwaren steht für Premiumqualität. Als Alternative zur Massenproduktion erfährt das Fleischerhandwerk eine Renaissance. Crafted Meat ist international ebenso gefragt wie Craft Bier.
Glaubwürdige Fleisch- und Wurstqualität setzt die enge Zusammenarbeit zwischen dem Fleischerhandwerk und der Landwirtschaft voraus.
Die regionale Herkunft des Fleisches bestimmt den herkunftstypischen Geschmack der Fleischerzeugnisse. Daher wird Transparenz über die Herkunft von den Konsumenten als wesentliches Qualitätskriterium angesehen. Fleischqualität, die schmeckt, wird den Konsumenten am besten über Ladengastronomie und kulinarische Events vermittelt. Dabei geht es um die Balance zwischen traditionell landestypischer und trendig-internationaler Kulinarik.
Was ist neu an diesem Crafted Meat-Konzept? Fleischhauer und Wursterzeuger, die nach traditionellen Methoden arbeitend, über eine loyale, weil begeisterte, lokale Kundschaft verfügen, hat es zwischen Bodensee und Neusiedlersee immer schon gegeben und gibt auch noch heute. Was die junge Garde der Fleisch-Revoluzzer vielen Traditionalisten voraus hat: Sie verbinden klassische Handwerkskunst (die sie sich oft als Quereinsteiger von den Kapazundern abgeschaut haben) mit aktueller Konsumforschung und modernen Verkaufsmethoden, digitale Tools mit eingeschlossen. Handwerk meets Marketing, das ist die neue Erfolgsformel.
Haase stützte sich bei seinem Vortrag in Linz auf die Prosumer Report Studie: „Eaters Digest: The Future of Food“, erstellt von der weltweit aufgestellten Werbeagentur Havas (früher Euro RSCG). Sie beruht auf der Befragung von 12.000 „Prosumern“ (trendbewusste Konsumenten, die als Meinungsführer großen Einfluss auf ihr Umfeld ausüben) in 37 Ländern, darunter auch in Deutschland, leider nicht in Österreich.
Kernzielgruppe „Foodies“
Was charakterisiert die Foodies? „Essen ist für mich genauso genussvoll wie Sex“, gestanden 58% der Befragten. Speziell in Deutschland zeichnen sich die Foodies dadurch aus, dass sie für „Social Eating“ schwärmen. Dinnerparties sind en vogue. Wasser auf die Mühlen der Crafted Meat-Verfechter ist ein weiteres Ergebnis der Studie: Der Report fand heraus, dass 82% der globalen Prosumer der Lebensmittelindustrie nicht mehr voll vertrauen. Havas berät seither seine Markenartikelkunden, wie sie durch Transparenz, Kreativität und Entertainment diese Glaubwürdigkeit zurückerobern können.
Start Ups vom Schlag eines Hendrik Haase aber erblicken in der Vertrauenskrise vieler Food-Marken die große Chance, die Foodies von den industriell zu den handwerklich hergestellten Lebensmitteln herüber zu lotsen.
In Österreich sind es bislang die großen Handelsketten die mit ihren Eigenmarken den Foodies den Hof machen. Mit Marken wie „Ja!Natürlich“ „Hofstädter“, „Zurück zum Ursprung“, „Tann“, „Spar Vital“ und „Spar Premium“ wollen sie gezielt die Bedürfnisse der ernährungs- und genussorientierten Verbraucher ansprechen. Kundenmagazine wie „Gourmetro“ warten mit Rezepten auf, wie man sie ebenso in Kulinarik-Magazinen oder bei den zahlreichen Kochshows im Fernsehen serviert bekommt. Haubenköche sonnen sich in der Gratis-PR, die ihnen Tag für Tag die ORF-„Seitenblicke“ bescheren. Und auch die Landwirtschaft weiß, wie sie den Foodies den Mund wässrig macht nach den Schmankerln von der Alm und vom Bauernhof. Über 120 Genussregionen stellen ihre Leitprodukte ins Werbeschaufenster.
Österreichs KMU-Fleischbranche hat in diesem Wettlauf um das Geschäft mit den Bewusst-Genuss-Essern seine Chancen bei weitem nicht ausgeschöpft. Woran das liegt? Machen wir die Probe aufs Exempel. Was würde passieren, wenn ein heimisches Familienunternehmen des Fleischergewerbes die eine oder andere der hier aufgelisteten, innovativen Fleisch-Verkaufsstrategien umsetzen wollte? Es müsste sich, auch im Sinne der leicht reformierten Gewerbeordnung, eine Anzahl verschiedener Gewerbescheine besorgen. Was sich auf den ersten Blick wie eine kabarettistische Pointe ausnimmt, verweist in Wahrheit auf ein tiefgreifendes strukturelles Problem unserer Lebensmittelwirtschaft.
Ausgeprägtes horizontales Branchendenken, ob in der Kammer, in der Sozialpartnerschaft oder in den Parteien, schafft schlechte Voraussetzungen, vertikal durchgängige Marketing- und Markenkonzepte nach dem Muster „from stable to table“ (vom Stall auf den Tisch) oder Fleisch-spezifisch, „from pork to fork“ (vom Schwein zur Gabel) und Kooperationsformen nach diesem ganzheitlichen Ansatz marktwirtschaftlich zu realisieren. Da ermutigt die Landwirtschaftskammer ihre Bauern zur Hofschlachtung und zur Selbstvermarktung, anstatt ihnen die arbeitsteilige Zusammenarbeit mit dem Fleischverarbeitungsprofi, dem Metzger im Nachbarort, als den ökonomisch viel intelligenteren Absatzweg ans Herz zu legen.
Damit die Crafted Meat-Bewegung auch bei uns breiter Fuß fasst, bedarf es Diskussionsrunden, wie sie von der KMU Linz veranstaltet wurde. Fleisch- und Wurstmarketing kann nicht exklusiv Sache der AMA, der großen Schlachtbetriebe und der großen Handelsketten sein.
Es braucht mittelständische Leitbetriebe, die diese enge Verschränkung von Fleischer-Handwerkskunst und modernem Marketing erlernen und beherrschen. Einige sind da schon auf einem guten Weg.
Charta der neuen Fleischkultur
Fleisch & Co
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