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The Systemantics of Meat – Warum Ernährungspolitik ohne Verständnis für Fleisch scheitern kann

Neue Studie warnt: Wer Ernährungspolitik ohne Fleisch denkt, übersieht komplexe Systeme. „Systemantics of Meat“ plädiert für Vielfalt statt Verbote.

Neue Studie warnt: Wer Ernährungspolitik ohne Fleisch denkt, übersieht komplexe Systeme. „Systemantics of Meat“ plädiert für Vielfalt statt Verbote.
Eine Kuh ruht auf einer Almwiese – Symbol für das komplexe Zusammenspiel von Tierhaltung, Landschaftspflege und Ernährungssystemen, das die neue Studie „The Systemantics of Meat“ beleuchtet. © Pixabay

The Systemantics of Meat – Warum Ernährungspolitik ohne Verständnis für Fleisch scheitern kann

Ein Gegenpol zur Simplifizierung der Ernährung

Während Ernährungsempfehlungen weltweit zunehmend in Richtung pflanzenbasierter Kost tendieren, fordert eine aktuelle wissenschaftliche Publikation zum Innehalten auf.
Unter dem Titel The Systemantics of Meat in Dietary Policy Making, or How to Professionally Fail at Understanding the Complexities of Nourishment erschien im September 2025 ein Beitrag in der Fachzeitschrift Meat & Muscle Biology, verfasst von Frédéric Leroy (Vrije Universiteit Brussel), Peer Ederer (Global Food & Agribusiness Network), Michael R. F. Lee (University of Bristol) und Giuseppe Pulina (University of Sassari).

Die Studie richtet sich gegen vereinfachte politische Ernährungskonzepte, die Fleisch pauschal als Problem darstellen. Stattdessen argumentieren die Autor:innen, dass Nahrungssysteme historisch, kulturell und ökologisch derart komplex sind, dass zentral gesteuerte Lösungen fast zwangsläufig scheitern.

Auch der jüngst veröffentlichte EAT-Lancet 2.0-Report wird in diesem Zusammenhang kritisch gesehen. Die überarbeitete Empfehlung für eine überwiegend pflanzenbasierte Ernährung steht derzeit im Zentrum einer wissenschaftlichen Debatte: Fachleute werfen dem Bericht vor, mit fehlerhaften Zahlen zu operieren und die Bedeutung von Fleisch für Nährstoffversorgung, Gesundheit und Ernährungssicherheit zu unterschätzen.
Wie Fleisch & Co am 21. September 2025 berichtete („EAT-Lancet 2.0: Kritik an falschen Zahlen und der Debatte um Fleisch“), bemängeln Ernährungsexpert:innen, dass zentrale Datengrundlagen inkonsistent seien und die pauschale Reduktionslogik der EAT-Lancet-Kommission den realen Versorgungsbedingungen in vielen Regionen nicht gerecht werde.

Die Autor:innen von „The Systemantics of Meat“ sehen darin ein Beispiel für genau jene „Systemblindheit“, vor der sie warnen: Ernährungspolitik dürfe nicht auf globalen Durchschnittswerten beruhen, sondern müsse die Vielschichtigkeit kultureller, ökologischer und ökonomischer Kontexte berücksichtigen.

Ziel und Ausgangspunkt der Studie

Die Forschenden analysieren, wie wissenschaftliche Empfehlungen, politische Programme und gesellschaftliche Narrative zunehmend auf globale Reduktionsziele für Fleisch und tierische Produkte ausgerichtet werden.
Sie sehen darin ein Symptom für ein tieferes Missverständnis: Ernährung wird politisiert, ohne die Funktionsweise realer Ernährungssysteme zu verstehen.

Ziel der Publikation ist es, diese „Systemantik“ – also die Tendenz, komplexe Systeme mit simplen Steuerungsmechanismen zu überformen – offenzulegen und wissenschaftlich zu kritisieren.

Zentrale Argumente: Ernährung ist kein simples Gleichungssystem

Im Mittelpunkt steht die Erkenntnis, dass Ernährungssysteme mehrdimensionale, adaptive Gebilde sind, die sich über Jahrtausende entwickelt haben.
Sie verbinden Biologie, Kultur, Ökonomie und Ökologie – und sind eng mit Landwirtschaft, Handel und sozialer Struktur verflochten.

Die Autor:innen betonen fünf Hauptaspekte, die in der modernen Ernährungspolitik häufig übersehen werden:

Aspekt Kernaussage der Studie
Komplexität von Ernährungssystemen Nahrungssysteme sind Ergebnis historischer Entwicklung, kultureller Anpassung und ökologischer Zwänge. Vereinfachte Leitdiäten ignorieren diese Vielfalt.
Gefahren zentraler Steuerung Politische Eingriffe von oben – etwa durch standardisierte Ernährungsvorgaben – führen oft zu unbeabsichtigten Folgen und gesellschaftlicher Instabilität.
Bedeutung tierischer Lebensmittel Fleisch und Milchprodukte liefern nicht nur essenzielle Nährstoffe, sondern tragen zur Bodenfruchtbarkeit, Kreislaufwirtschaft und ländlichen Entwicklung bei.
Sozioökonomische Dimension Nutztierhaltung ist in vielen Ländern Schlüssel für Einkommen, Unabhängigkeit und Ernährungssicherheit – besonders für Frauen.
Notwendigkeit von Vielfalt Ernährungspolitik sollte dezentral, flexibel und kultursensibel gestaltet werden – nicht global vereinheitlicht.

Methodischer Ansatz

Die Studie ist kein Datensatz, sondern eine systemische, interdisziplinäre Analyse, die historische, agrarökonomische, ernährungsphysiologische und gesellschaftstheoretische Perspektiven verknüpft.
Sie stützt sich auf Beispiele aus der Geschichte – etwa die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion oder die gescheiterte Bio-Umstellung Sri Lankas 2021 – um zu zeigen, wie zentral verordnete Ernährungspolitik reale Risiken für Ernährungssicherheit und gesellschaftliche Stabilität birgt.

Darüber hinaus verweist sie auf moderne Modelle der Systemtheorie, um zu erklären, weshalb Ernährung nicht linear steuerbar ist. Nahrungssysteme reagieren auf Eingriffe adaptiv – oft mit unvorhersehbaren Konsequenzen.

Kritik an der „Großen Ernährungswende“

Im Fokus steht die Auseinandersetzung mit globalen Kampagnen, die eine „Planetary Health Diet“ oder „Fleischwende“ propagieren.
Leroy und seine Co-Autoren werfen diesen Konzepten wissenschaftlichen Reduktionismus vor: Die Reduktion tierischer Produkte werde zum moralischen Imperativ erhoben, ohne die funktionalen Wechselwirkungen in Agrarökosystemen zu berücksichtigen.

„Versuche, zentral zu bestimmen, was die Menschheit essen soll, wiederholen die Fehler der Vergangenheit“, sagt Prof. Frédéric Leroy.
„Ernährungssysteme funktionieren am besten, wenn sie Vielfalt, Anpassungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit respektieren – nicht, wenn sie durch starre Pläne vorgeschrieben werden.“

Rolle der Nutztiere: Funktion statt Symbol

Ein zentrales Anliegen der Autor:innen ist, die funktionale Rolle von Nutztieren wieder in den Mittelpunkt zu rücken.
Fleischliefernde Tierhaltung wird nicht als dogmatischer Bestandteil der Ernährung verteidigt, sondern als biologisch-ökonomische Notwendigkeit in vielen Regionen beschrieben.

  • Wiederkäuer können Grünland und Reststoffe verwerten, die für menschliche Ernährung ungeeignet sind.
  • Tierhaltung fördert Nährstoffkreisläufe durch Dung, der Böden fruchtbar hält.
  • In vielen Ländern sichern Tiere soziale Resilienz und Einkommen in kleinbäuerlichen Strukturen.
  • Fleisch ist nährstoffdicht und in bestimmten Lebensphasen schwer gleichwertig ersetzbar.

Empfehlung: Ernährungspolitik dezentral denken

Die Autoren fordern, Ernährungssysteme dezentral, divers und anpassungsfähig zu gestalten.
Statt globaler Diätempfehlungen sollten regionale Strategien entwickelt werden, die lokale Ressourcen, Klima, Traditionen und Ernährungsbedürfnisse berücksichtigen.

Als konstruktive Beispiele nennen sie Initiativen wie die Dublin Declaration of Scientists on the Societal Role of Livestock und den Nourishment Table, die auf evidenzbasierte, pluralistische Ansätze setzen.

Einordnung und Bedeutung

Mit „The Systemantics of Meat“ legen Leroy und Kollegen einen wissenschaftlich fundierten, aber auch gesellschaftspolitischen Beitrag vor, der ein Gegengewicht zur Vereinfachung in der globalen Ernährungsdebatte bildet.
Die Studie ruft dazu auf, Fleisch nicht als ideologisches Symbol, sondern als integralen Bestandteil eines komplexen Nahrungsnetzwerks zu verstehen – das ökologisch, ökonomisch und kulturell verankert ist.

Damit liefert sie auch für die europäische Fleischwirtschaft und Ernährungspolitik wichtige Impulse: Transformation ja – aber auf Grundlage von Systemverständnis, nicht auf Basis vereinfachter Narrative.

Quellen

Fleischkonsum, Ernährungspolitik, Ernährungssysteme, Meat & Muscle Biology, Frédéric Leroy, Studie, Nutztierhaltung, Systemantics of Meat, nachhaltige Ernährung, Ernährungssicherheit