Fleischeslust – wenn ein Metzger ein Jahr lang seine Welt zeichnet

Fleischeslust – wenn ein Metzger ein Jahr lang seine Welt zeichnet
Die Schlüsselszene von „Fleischeslust“ findet sich auf Seite 58: „Das Problem sind die Veganen und die Ausländer, die kein Schwein essen“, erklärt ein Gast am Stammtisch dem Metzger Erwin Merz, warum es im Einzelhandel nicht so gut läuft. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man, was zu Füßen des Verteidigers des Handwerks steht: ein Supermarkt-Sackerl! In Zeichnungen hat diese feinsinnige Beobachtung Martin Oesch festgehalten, der sich in dem Comic auch weitere 190 Seiten lang dem Geschehen rund um das fiktive Geschäft Merz widmet. „Die eine oder andere Szene aus dem Comic habe ich selber erlebt oder wurde mir so oder ähnlich erzählt“, sagt der 33-Jährige und unterstreicht damit die Lebensnähe des Plots. Denn Martin Oesch ist kein abgehobener Moralist, der mit dem Finger auf die Branche zeigt. Nein, er ist selbst gelernter Metzger!
Ein Comic, der trifft
Mit dickem Pinsel zeichnet er den vor der Pensionierung stehenden erfundenen Kollegen und spart nichts aus. Doch es sind die Details, die zum Nachdenken anregen. Die ruhigen Minuten auf dem WC etwa stellen die einzigen Pausen für den gestressten Protagonisten dar. Denn Metzger Erwin Merz plagen Albträume ebenso wie seine Kunden mit ihren unrealistischen Wünschen. Unwirsch vergleicht er dann Nitrit mit dem Haarfärbemittel einer Kundin, „damit Sie nicht grau werden“. Ja, Metzger Erwin ist in einer Sinnkrise. Echte Argumente hat er wenige, wenn der Biobauer Joni mit ihm diskutieren will. „Das Medium ist perfekt geeignet, um den Fragen und Gedanken Raum zu geben“, sagt Oesch über Comics wertschätzend. „Ich versuchte die Thematik auf eine Ebene zu bringen, die die Leser zum Nachdenken anregt und miteinbezieht.“
Wie ihn die Zeit in der Metzgerei La Boulotte in Bern geprägt hat, fragten wir Martin „Tinu“ Oesch selbst.
Fleisch & Co: Herr Oesch, Sie zeichnen – im wahrsten Sinn des Wortes – ein sehr ernüchterndes Bild der Branche, verurteilen aber kaum jemanden. Wohin soll es für die letzten Metzger gehen?
Tinu Oesch: „Es gibt ja durchaus auch Betriebe, die immer noch gut laufen. Ein Familienbetrieb im Baselland zum Beispiel hat soeben einen eigenen Schlachthof gebaut, wohin auch Bauern ihre Tiere bringen können, um sie anschließend direkt zu vermarkten. Das finde ich genial! Gleichzeitig gibt es immer mehr Leute, die es satthaben, von den großen Konzernen abhängig zu sein, da sehe ich enorm viel Potenzial. Ich glaube auch, dass offene und ehrliche Kommunikation sowie Transparenz Vertrauen schaffen können. Bei einem lokalen Metzger kann man in die Wurststube gehen und vielleicht sogar mal einen Kurs machen, bei den Fleisch-Giganten ist das nicht möglich! Kleine Betriebe könnten vermehrt zusammenarbeiten, anstatt zum Großhändler oder zu einem Gastrolieferanten zu rennen. Freihandel im Kleinen, quasi: Metzger Müller kauft seine Trockenwürste beim Metzger Merz, und der Merz nimmt dafür die Leberterrinen vom Müller ins Sortiment.“
Fleisch & Co: Was haben Sie geliebt an Ihrem Beruf? Oder, um es mit dem Buchtitel zu sagen: Wann kam die „Fleischlust“ bei Tinu Oesch auf?
Tinu Oesch: „Ich genoss eine sehr gute Ausbildung. Mein Lehrmeister hat mir das stolze Handwerk vermittelt und die richtigen Haltungen vorgelebt. Mich fasziniert immer wieder die Transformation vom Tier zur Sache, zum Lebensmittel. Die Geschichte, die hinter den Produkten, den Konservierungsmethoden steckt, die seit Jahrtausenden die gleichen sind. Wo viel Zeit reinfließt, entsteht meistens etwas Gutes; mich kann man also mit einem Schmorbraten, einem Siedfleisch oder einem Ragout sehr zufriedenstellen, da kommt Fleischeslust bei mir auf!“
Fleisch & Co: Wie haben Sie selbst mit der Bio-Metzgerei La Boulotte eine Gegenposition aufgebaut?
Tinu Oesch: „Wir haben nicht viel anders gemacht als eine ,normale‘ Metzgerei, rein handwerklich gesehen. Wir haben offen und transparent kommuniziert und uns auf zwei Standpunkte gestellt: Alle Tiere stammen aus Freilandhaltung und haben Bio-Qualität. Wir kaufen nur ganze Tiere, das heißt, kein Zukauf von Edelstücken oder Wurstfleisch. Dadurch haben wir uns auch Hürden in den Weg gelegt und beträchtliche Umwege genommen. Bis heute gehört das aber zu unserer Praxis und hat schlussendlich zu einer sehr offenen und auch experimentierfreudigen Stammkundschaft geführt. Freilich ist auch La Boulotte nicht vom Personal- und Fachkräftemangel verschont geblieben sowie von gesellschaftlichen Entwicklungen, Krisen usw. Auch Bio-Tiere sterben, aber wir versuchen, das Beste daraus zu machen und Bewusstsein zu schaffen für das Tier, den Metzger, aber auch die Landwirte.“
Fleisch & Co: Wie ist es dann zum Ausstieg aus der Metzgerei gekommen – zu kalt, zu viel Blut, zu viel Konkurrenz?
Tinu Oesch: „In meinem Alltag als Kulturschaffender vermisse ich durchaus von Zeit zu Zeit den Metzgerberuf. Als Autor und Zeichner arbeite ich sicher länger und zu einem weit schlechteren Stundenlohn wie als Metzger: Wochenendarbeit ist normal, Ferien müssen hart erkämpft werden. Die Arbeit in der Produktion, das Wursten, das Salzen, aber auch das Ausbeinen der schönen Rinderviertel hat mir immer sehr viel Freude gemacht. Eine Herausforderung für mich war der Fachkräftemangel und die ständig wechselnde Zusammensetzung des Teams. Gleichzeitig hatte ich das Buchprojekt, das es mir ermöglichte, dank Fördergelder ein Jahr lang nur zu zeichnen und zu schreiben, was mir zuvor im Alltag neben der Metzgerarbeit nicht möglich war. Ich würde aber sagen, es ist ein Ausstieg auf Zeit – ich komme wieder, keine Frage!“
Fleisch & Co: Apropos zeichnen und schreiben: Erzählen Sie uns doch ein bisschen über die Ursprünge der Geschichte Ihres Comics!
Tinu Oesch: „Als ich noch als Metzger arbeitete, wurde ich im Laden, aber auch im Privatleben oft angesprochen, manchmal regelrecht ausgefragt über den Beruf, über meine Beweggründe. Die meisten Leute haben keine Vorstellung davon, wie Fleisch produziert wird. Es herrscht ein Mangel an Wissen und gleichzeitig viel Wissensbedarf. Zuerst wollte ich mit einem Buch Fragen beantworten. Mir war nicht von vornherein klar, dass es ein Comic werden würde, ebenso tauchte die Hauptfigur Erwin erst später im Prozess auf. Das Projekt hat einige Abzweigungen und Hürden genommen und ist dann irgendwann bei der heutigen Form gelandet. Im Prozess wurde mir bewusst, dass ich zwar einiges vermitteln, aber nicht alle Fragen beantworten kann.“
Fleisch & Co: Können Sie uns ein bisschen mit der Hauptfigur, dem Metzger Erwin Merz, vertraut machen?
Tinu Oesch: Erwin ist der typische Harte-Schale-weicher-Kern-Typ. Ihn beschäftigen handfeste Sachen wie die ungelöste Nachfolge für die Metzgerei, aber auch weniger fassbare Gedanken, wie etwa die Frage, ob wir Tiere überhaupt töten und essen dürfen? Über seine Gefühle zu sprechen, geschweige denn das Bestehende zu hinterfragen, fällt ihm aber schwer. Er versucht herauszufinden, an welchem Punkt seine Branche in die falsche Richtung abgebogen ist, und sieht sich mit unangenehmen Tatsachen konfrontiert. Ist sein Lebenswerk auf einmal nichts mehr wert? Margrit (Erwins Frau, Anm.) sieht das Ganze etwas pragmatischer. Für sie gibt es auch ein Leben außerhalb der Metzgerei, eines, das in all den Jahren viel zu kurz gekommen ist. Erwin wie Margrit haben ihre eigene Art, wie sie mit der Situation umgehen. Etwas hält sie noch zusammen, obwohl sie sich mächtig auseinandergelebt haben. Die beiden Figuren haben ihre Entsprechungen im realen Leben. Ich wollte die Figuren möglichst authentisch zeichnen und ihnen gleichzeitig eine Eigenschaft mitgeben, die überrascht. Da ist mehr hinter der Fassade des Schlachters und der Wurstfachverkäuferin – spannende und komplexe Menschen nämlich!
Fleisch & Co: Wie blicken Sie nach Ihrer aktiven Zeit als Metzger heute auf das Handwerk?
Tinu Oesch: „Für mich hat das, was heutzutage in den Fleischfabriken und Mega-Schlachthöfen passiert, nichts mehr mit dem Handwerk zu tun, das ich liebe. Die Industrialisierung hat dem Beruf sehr geschadet. Zum einen, weil die meisten Menschen nun fix-fertig abgepackte Fleischerzeugnisse aus dem Supermarkt kaufen und den Bezug zum Rohstoff verloren haben. Zum anderen sind Metzger aus unserer Gesellschaft verschwunden. Anders als in unserem Dorf arbeiten die meisten Metzger in Hallen ohne Fenster irgendwo am Stadtrand. Das Handwerk an sich hat viel Potenzial, die Arbeitsschritte und Techniken sind so alt wie genial! Der Beruf fußt auf einer jahrtausendealten Essgewohnheit. Die Zubereitung von Fleisch ist Kulturgut und identitätsstiftend. Das kann aber kein Freibrief sein für das, was unser Fleischkonsum mit den Tieren, den Menschen und dem Planeten anrichtet. Metzger und Konsumenten können sich mehr Spielraum erkämpfen, indem sie regional einkaufen und produzieren, transparent arbeiten und offen kommunizieren. Der Verzicht auf Billigware und Convenience-Produkte hat zur Folge, dass die Leute wieder mehr kochen oder sich bekochen lassen, die Gesundheit und der Zusammenhalt werden gefördert. Der Gang zur lokalen Metzgerei oder der Kauf vom Mischpaket beim Bauern hilft den Produzenten dabei, unabhängig vom Markt zu werden. Mit meinem Buch versuche ich hier Fragen aufzuwerfen und Bewusstsein zu schaffen.“
Fleisch & Co: Der Titel des Comics, „Fleischeslust“, bezieht sich nicht nur auf das Metzgerhandwerk. Ein weiteres Thema in der Geschichte ist die verschwundene Körperlichkeit zwischen den Hauptfiguren. Wie hat das geholfen, Margrit als Figur auszubauen?

(200 Seiten, € 29,–) ist in
der Edition Moderne erschienen:
www.editionmoderne.ch.
Tinu Oesch: „In der Metzgerei wie in der Liebe hat es zu Beginn gut funktioniert, da war viel Leidenschaft und Neugierde. Doch mit der Zeit ist alles mühsamer geworden und auch nicht mehr so spannend. Margrit leidet darunter, denn sie hat Bedürfnisse, die sie benennen und ausleben will. Sie hängt nicht der Vergangenheit nach, aber sie vermisst Nähe und Zweisamkeit. Sie macht ihr Glück aber auch nicht abhängig von ihrem Mann, denn der ist schon lange keine Hilfe mehr. Erwin ist nicht nur mit Margrit, sondern auch mit der Metzgerei verheiratet und lässt sich davon in die Tiefe ziehen. Während sie sich noch einmal neu entdeckt und dadurch Distanz gewinnt, fehlt ihm zunehmend der Überblick, geschweige denn der Zugang zu seinen Bedürfnissen. Margrits Umgang mit der Krise ist ein Gegenentwurf zu Erwins Misere. Es gibt durchaus Möglichkeiten, ein eingeschlafenes Liebesleben wieder aufzufrischen, und gerade ältere Leute sind zunehmend offener für andere Formen der Sexualität. Ließe sich das auch auf die Fleischbranche übertragen? So manchem Betrieb würde ein kreativer Umgang mit dem, was noch da ist, guttun. Plötzlich kommt der Kick von einer ganz anderen Ecke – es lohnt sich, neugierig zu bleiben!“
Autor: Roland Graf


