
Der aktuelle Fairness-Bericht 2024 zeigt einmal mehr die ungleiche Machtverteilung in der österreichischen Lebensmittelkette. Mehr als 800 Beschwerden wurden verzeichnet – ein neuer Höchststand, der auf strukturelle Probleme hinweist. Während der Handelsverband die Zahlen relativiert und von „harten Verhandlungen auf beiden Seiten“ spricht, sehen kleine Produzenten ihre Existenz bedroht.
Wachsende Zahl an Beschwerden
Seit der Gründung des Fairness-Büros 2021 steigt die Anzahl der gemeldeten Fälle stetig. 2024 wurden insgesamt 839 Beschwerden registriert, davon 239 unmittelbare. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen, da viele Betriebe aus Angst vor Repressalien keine Beschwerde einreichen. Laut Bundeswettbewerbsbehörde fühlen sich vier von zehn Lieferanten unter Druck gesetzt.
„Für große Konzerne mögen harte Verhandlungen üblich sein. Für kleine, oft familiengeführte Betriebe geht es jedoch um die Existenz“, betont Kai Peter Höller vom Netzwerk „Pro Lebensmittel“. Tatsächlich zeigt sich in den Fallbeispielen des Fairness-Berichts, dass viele Produzenten in wirtschaftliche Engpässe geraten, weil Handelsriesen ihre Marktmacht ausspielen.
Mechanismen der Abhängigkeit
In Österreich beherrschen die drei größten Handelsketten rund 90 % des Lebensmittelmarktes. „Diese hohe Marktkonzentration führt zu harten Preisverhandlungen, drohenden Auslistungen und einseitigen Vertragsänderungen. Mehr als 100.000 bäuerliche Betriebe und Verarbeiter stehen einer Handvoll Handelsriesen gegenüber – das ist ein Kampf mit ungleichen Waffen“, so Totschnig. Mit dem Fairness-Büro will sich der Bundesminister für mehr Fairness entlang der Lebensmittelkette einsetzen.
Diese Dominanz erlaubt es den Handelsriesen, Preise zu diktieren, Rabatte zu erzwingen und Vertragsbedingungen einseitig zu ändern.
Preisdrückerei und erzwungene Rabatte
Ein zentrales Problem ist die Preispolitik. Während Verbraucherpreise steigen, bleiben die Einkaufspreise für Produzenten niedrig oder werden sogar gesenkt. Fleischproduzenten berichten, dass sie für ihre Waren bis zu 30 Prozent weniger erhalten, während die Endverbraucherpreise für dasselbe Produkt im Regal gestiegen sind.
Zusätzlich müssen Produzenten hohe Rabatte einräumen – oft ohne Gegenleistung. Diese können über zehn Prozent des Umsatzes ausmachen und beinhalten Skonto, Werbekostenzuschüsse oder Einkaufsgutschriften. Der Fairness-Bericht dokumentiert zahlreiche Fälle, in denen Lieferanten gezwungen wurden, zusätzliche „Gebühren“ für Dienstleistungen zu bezahlen, die nicht transparent nachvollziehbar sind.
Diese Praktiken belasten insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen, die nicht über die finanziellen Ressourcen verfügen, um solche Forderungen langfristig zu tragen. Ein Unternehmen, das sich weigert, die verlangten Rabatte zu gewähren, läuft Gefahr, von der Handelskette ausgelistet zu werden. Dies kann für viele Lieferanten existenzbedrohend sein, da sie meist keine alternativen Vertriebskanäle haben.
Erzwungene Dienstleisterwahl und lange Zahlungsfristen
Ein weiteres strukturelles Problem ist die Verpflichtung, bestimmte Dritt-Dienstleister zu nutzen. So müssen Lieferanten etwa Logistik- oder Zahlungsdienstleister akzeptieren, die hohe Gebühren verlangen – in manchen Fällen bis zu fünf Prozent des Bruttobetrags. Auch Zahlungsfristen werden systematisch ausgereizt: Die gesetzlich erlaubten 30 bis 60 Tage werden oft überschritten, was die Liquidität kleiner Betriebe belastet.
Das Fairness-Büro dokumentierte zudem zahlreiche Fälle, in denen Zahlungen erst nach 90 oder gar 120 Tagen geleistet wurden. Gerade für kleine Produzenten, die auf eine schnelle Zahlung angewiesen sind, stellt dies eine enorme Herausforderung dar. In einigen Fällen kam es sogar dazu, dass Unternehmen aufgrund ausbleibender Zahlungen Insolvenz anmelden mussten.
„No-Name“ gegen Markenprodukte
Eigenmarken gewinnen im Handel zunehmend an Bedeutung. Dies verschärft die Problematik, da sie meist günstiger angeboten werden und oft von denselben Produzenten stammen, die auch Markenprodukte herstellen. Diese Entwicklung führt dazu, dass Handelskonzerne eine noch stärkere Verhandlungsposition haben und bei Qualitätsmarken höhere Margen aufschlagen, um sie für Konsumenten unattraktiver zu machen.
Die steigende Dominanz von No-Name-Produkten wirkt sich auf die gesamte Wertschöpfungskette aus. Während Konsumenten durch niedrige Preise gelockt werden, sind die Produzenten gezwungen, unter immer schlechteren Bedingungen zu liefern. Dies führt langfristig zu einer Verdrängung etablierter Markenprodukte und einer zunehmenden Kontrolle der Handelsketten über den Markt.
Existenzbedrohung durch exklusive Lieferverträge
Gerade für Start-ups und kleine Betriebe können Exklusivverträge zur Falle werden. In mehreren dokumentierten Fällen wurden Jungunternehmen dazu gedrängt, ihre gesamte Produktion an eine Handelskette zu binden – ohne Abnahmegarantie. Der Produzent muss liefern, doch der Handel kann Bestellungen kurzfristig reduzieren oder stoppen. Für Unternehmen ohne Alternativen bedeutet dies das wirtschaftliche Aus.
Besonders problematisch sind Vertragsklauseln, die es Lieferanten untersagen, ihre Produkte an andere Händler zu verkaufen. Diese Praxis, bekannt als „Alleinbelieferungsvertrag“, führt dazu, dass kleine Betriebe vollständig von einer Handelskette abhängig sind. Wenn dann die Nachfrage des Handels nachlässt oder ein Vertrag nicht verlängert wird, bleibt der Produzent oft ohne Absatzmarkt zurück.
Kartellverfahren und politische Maßnahmen
Der Bericht zeigt, dass einige Fälle bereits juristische Konsequenzen hatten. So verhängte das Kartellobergericht gegen eine große Handelskette eine Strafe von 70 Millionen Euro – die höchste Kartellstrafe in der österreichischen Lebensmittelgeschichte.
Auf EU-Ebene soll bis Ende 2025 die Richtlinie gegen unlautere Handelspraktiken evaluiert werden. Die österreichische Bundesregierung betont, dass sie die Ergebnisse des Fairness-Büros in die Diskussion einbringen wird. Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig fordert Maßnahmen gegen den Missbrauch von Marktmacht und verweist darauf, dass auf EU-Ebene neue Schutzmechanismen für kleine Produzenten diskutiert werden.
Auch die Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) prüft mehrere Fälle von unlauteren Handelspraktiken und könnte weitere Strafen verhängen. Dennoch bleibt die Durchsetzung solcher Maßnahmen schwierig, da viele Lieferanten aus Angst vor Repressalien keine offiziellen Beschwerden einreichen.
Seit der Gründung des Fairness-Büros hat sich nicht nur die Zahl der Fälle erhöht, sondern auch das Wissen über unlautere Handelspraktiken. Diese Erkenntnisse werden regelmäßig an die EU-Kommission weitergegeben, um das Ungleichgewicht zwischen Produzenten, Verarbeitern und der Lebensmittelkette auch auf EU-Ebene zu thematisieren. Der neue EU-Agrarkommissar Christophe Hansen hat nun ebenfalls in seiner Vision für Landwirtschaft und Ernährung die Notwendigkeit fairer Einkommen für Bäuerinnen und Bauern unterstrichen und Maßnahmen gegen unfaire Handelspraktiken angekündigt. Bis Ende 2025 soll die EU-Richtlinie über unlautere Handelspraktiken (UTP) einer umfassenden Evaluierung unterzogen werden – das Fairness-Büro liefert dazu konkrete Beispiele aus der Praxis.
Ein ungleicher Kampf
Während der Handelsverband betont, dass nur ein Bruchteil der Geschäftsbeziehungen problematisch sei, zeigt der Bericht eine andere Realität: Kleine Produzenten haben oft keine Wahl, wenn sie im österreichischen Lebensmittelmarkt bestehen wollen. Die hohe Marktmacht der Handelsriesen führt dazu, dass viele Produzenten sich auf unfaire Bedingungen einlassen – aus Angst, sonst ganz aus den Regalen zu verschwinden.
„In den Medien wird das Thema etwas verfälscht aufgegriffen und vom Handel bewusst in falsche Relation gesetzt – das Fairnessbüro und das Faire-Wettbewerbsbedingungen-Gesetz behandelt die gesamte Lebensmittelversorgungskette, fasst Kai Peter Höller vom Netzwerk „Pro Lebensmittel“ zusammen, „da sind auch Groß- und Mittelbetriebe (Sparte Industrie und Gewerbe) betroffen. Das Fairnessbüro ist eine wichtige vorgelagerte Einrichtung um unfaire Handelspraxen aufzuzeigen und abzustellen, bevor diese zur Bundeswettbewerbsbehörde gelangen. Eine Klage gegen die Handelskonzerne traut sich aber kaum jemand zu – so weit muss und soll es aber gar nicht kommen.
Der Bericht des Fairness-Büros macht eines deutlich: Eine echte Verhandlung auf Augenhöhe gibt es in vielen Fällen nicht. Die Frage ist, ob die Politik bereit ist, hier regulierend einzugreifen, bevor weitere Betriebe vom Markt verschwinden. Ohne klare gesetzliche Rahmenbedingungen und stärkere Durchsetzung von Fairness-Richtlinien könnten viele kleine Produzenten langfristig vom Markt verdrängt werden – mit weitreichenden Folgen für die österreichische Lebensmittelversorgung und die regionale Wertschöpfung.
Fairness-Büro: Tätigkeitsbericht 2024
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